M. Palacio: Kleine (Sozial-)Geschichte des spanischen Fernsehens

Cover
Titel
Kleine (Sozial-)Geschichte des spanischen Fernsehens.


Autor(en)
Palacio, Manuel
Erschienen
Marburg 2022: Schüren Verlag
Anzahl Seiten
161 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian von Tschilschke, Romanisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Auf dem Cover der deutschen Übersetzung von Manuel Palacios Kleiner (Sozial-) Geschichte des spanischen Fernsehens ist eine der Hauptfiguren aus der Erfolgsserie La casa de papel (Haus des Geldes, 2017–2021) in der für sie typischen Verkleidung abgebildet: roter Kapuzenanzug und Salvador-Dalí-Maske. Damit wurde ausgerechnet ein Ausschnitt aus der Fernsehserie gewählt, die wie keine andere für das Ende des nationalen spanischen Fernsehens in seiner bisherigen Form steht. Die beiden ersten Staffeln von La casa de papel wurden noch von dem seit 1989 existierenden spanischen Privatsender Antena 3 produziert und dann vom US-Streamingdienst Netflix aufgekauft, umgeschnitten und weiterentwickelt. Die ursprünglich spanische Produktion wurde so zu einem der größten internationalen Serienerfolge von Netflix überhaupt, worauf wiederum nicht wenige Spanier stolz waren. La casa de papel markiert aber nicht nur exemplarisch den grundlegenden Wandel, den das Medium Fernsehen generell im Hinblick auf Produktion, Distribution und Rezeption in den letzten Jahren erfahren hat, sondern verlieh speziell dem spanischen Fernsehen, dessen Wirkung bisher weitgehend auf seinen nationalen Kontext beschränkt war, eine ungekannte weltweite Resonanz.

Mit dem Verweis auf La casa de papel und andere über Spanien hinaus erfolgreiche Serien endet Manuel Palacios kenntnis- und anekdotenreicher Abriss der Geschichte des spanischen Fernsehens. Er bietet nun auch einer deutschsprachigen Leserschaft die Gelegenheit, sich umfassender, als das bisher möglich war, über diesen wenig bekannten Aspekt der spanischen Medienkultur zu informieren. Zu verdanken ist das dem Engagement des Marburger Schüren-Verlags, der sich dieser Nische angenommen hat, und dem an der Universität Regensburg angesiedelten Übersetzerkollektiv (Swantje Goebel, Ralf Junkerjürgen, Marian Bendix Metzner und Sieglinde Sporrer), das den Text in ein gut lesbares Deutsch gebracht hat. Der Autor selbst, Manuel Palacio, ist Professor für audiovisuelle Kommunikation an der Universität Carlos III in Madrid und wohl der beste Kenner der Geschichte des spanischen Fernsehens, zu der er bereits mehrere maßgebliche Publikationen vorgelegt hat.

Was die Lektüre des mit zahlreichen Illustrationen versehenen Bandes nicht nur für ein medienhistorisches Fachpublikum interessant macht, ist vor allem die sozialgeschichtliche Perspektive, die bereits im Titel angekündigt wird. Zwar kommen gelegentlich auch politische, wirtschaftliche, rechtliche oder technikgeschichtliche Aspekte zur Sprache, aber der Schwerpunkt liegt eindeutig auf der Verflechtung der Geschichte des Mediums mit gesellschaftlichen und kulturellen Prozessen, die ausführlich und gut nachvollziehbar erläutert werden. Eine Leitfrage des Bandes, die Palacio immer wieder aufgreift, besteht deshalb auch darin, was die Besonderheiten des spanischen Fernsehsystems im europäischen Vergleich ausmacht. Das sind in vielen Fällen die besonderen Umstände der Franco-Diktatur und deren Folgen, aber auch mentalitätsbedingte Eigenarten wie der Höhepunkt der Einschaltquoten nach Mittag oder in den späten Abendstunden, der von dem der anderen europäischen Länder signifikant abweicht. Wiederholt kommt Palacio auch auf die größte Schwierigkeit seines Unternehmens zurück: die lückenhafte Dokumentation des gesendeten Materials in den Archiven.

Der Aufbau ist, wie bei einer „Geschichte“ nicht anders zu erwarten, chronologisch. Palacio unterscheidet zwischen dem 28. Oktober 1956, an dem der staatliche Fernsehsender Televisión Española zum ersten Mal mit zunächst nicht mehr als hundert Zuschauern auf Sendung ging, und dem Abschluss von La casa de papel im Jahr 2021 sechs verschiedene Zeitabschnitte. Den Anfang macht das Fernsehen in der Franco-Zeit, die immerhin den ersten zwanzig Jahren der spanischen Fernsehgeschichte ihren Stempel aufdrückte. In Francisco Franco selbst fand das neue Medium einen seiner treuesten Zuschauer. Neben den im Rahmen der Diktatur nicht weiter überraschenden Merkmalen wie dem Personenkult, der politischen Indoktrinierung, der Zensur, die gerade bei den zahlreichen Live-Sendungen erhöhte Aufmerksamkeit erforderte, und dem ungehinderten Einfluss der katholischen Kirche, weist diese frühe Phase des spanischen Fernsehens aber auch einige Züge auf, die bei einem Fernsehen, das im Staatsauftrag handelt, eher ungewöhnlich erscheinen. So zum einen die nahezu ausschließliche Ausrichtung des Programms auf Unterhaltung, zum anderen die Entscheidung für ein Finanzierungssystem, das – einmalig in Europa – auf Fernsehgebühren verzichtete und ganz auf die Einnahmen aus der Werbeindustrie setzte. In der Phase des Desarrollismo (1964–1973), in der sich der Strukturwandel aufgrund des rasanten Anwachsens der Wirtschaft beschleunigte, bereitete genau diese Mischung dann, wie Palacio klar herausstellt, den Boden für die späteren demokratischen Veränderungen: „Die Auswirkungen dieser Besonderheiten sind interessant, denn in der Franco-Diktatur wurde die Fernsehwerbung […] völlig unerwartet zu einem identitätsstiftenden und modernisierenden Element, das sich in das ideologische Vakuum einfügte, mit dem sich das Franco-Regime den Spaniern präsentierte.“ (S. 43)

Im Hinblick auf den Beitrag, den das Fernsehen mit seinen nunmehr zwei Kanälen TVE1 und TVE2 in der Phase des Übergangs zur Demokratie (der Transición, 1975–1982) leistete, spricht auch Palacio, der sich in früheren Publikationen noch intensiver mit dieser Zeit beschäftigt hat, von einem „der großen Momente des Fernsehens in Spanien“ (S. 54). Doch versäumt er es nicht, auch auf die negativen Seiten dieser Phase, die symbolträchtig mit der Einführung des Farbfernsehens zusammenfiel, hinzuweisen, wie die fortwährende Programmzensur oder die politische Instrumentalisierung des Mediums, die auch in den Jahren danach ein Charakteristikum der spanischen Demokratie blieb. Das zeigt sich gerade auch im nächsten Zeitabschnitt, den Palacio ins Auge fasst: den Jahren der Herrschaft der Sozialisten, die 1982 unter Felipe González mit dem Anspruch an die Macht gekommen waren, Spanien grundlegend zu modernisieren. Für das Fernsehen, das noch keine private Konkurrenz zu fürchten hatte, brach ein „wahres goldenes Zeitalter“ an (S. 84). Es war geprägt von der Abrechnung mit der Franco-Zeit, von gesellschaftspolitischen Diskussionen wie etwa um die Abtreibung und von erotischer Freizügigkeit. Gleichzeitig entstanden zahlreiche hochwertige Sendungen, die „in das gemeinsame Erbe der Geschichte des spanischen Fernsehens eingegangen“ sind (S. 85). Die kulturelle Aufbruchstimmung der sogenannten Movida spiegelte sich vor allem in fortschrittlichen Kinder- und Jugendsendungen, die sich ins kollektive Gedächtnis der Spanier eingegraben haben.

Eine neue Ära begann dann mit dem Aufkommen der ersten privaten Fernsehsender (1990–1995). Antena 3 machte 1989 den Auftakt bei der Liberalisierung und Deregulierung des Marktes. Vor allem die neuen Late Night und Reality Shows, die sich am Vorbild des privaten italienischen Unterhaltungsfernsehens orientierten, brachten eine Reihe von Phänomen hervor, die unter dem Schlagwort „telebasura“ („Müllfernsehen“) in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert wurden. Eine zweite fundamentale Umwälzung erfuhr die spanische Fernsehlandschaft in mehreren Schüben seit den 1980er-Jahren durch die Gründung autonomer Fernsehanstalten in den verschiedenen spanischen Regionen. Die Jahre 1995–2008, die technologisch unter dem Vorzeichen der Digitalisierung standen, waren in wirtschaftlicher Hinsicht für das spanische Fernsehen, das sich zunehmend auf unabhängige Produktionsfirmen stützte, höchst produktiv. Was die Programminhalte betrifft, dominierten Familienserien, unter denen vor allem Cuéntame cómo pasó („Erzähl mir, wie es geschah“, 2001–, TVE) hervorragt, „die bedeutendste Serie in der gesamten Geschichte des spanischen Fernsehens“ (S. 137). Für die Zeit von 2009 bis in die Gegenwart sieht Palacio im spanischen Fernsehen verschiedene Tendenzen vorherrschen: die Reaktion auf aktuelle Krisenphänomene, ein verstärktes Interesse an der jüngeren und älteren Geschichte Spaniens sowie eine gesteigerte Sensibilität für die veränderte Stellung von Frauen in der Gesellschaft. Auf ein unerwartetes, ganz aktuelles Krisenphänomen konnte Manuel Palacios faktenreiche und kurzweilige Darstellung des spanischen Fernsehens indes nicht mehr eingehen: die Tatsache, dass die Corona-Pandemie dem vielfach schon totgesagten Medium die höchsten Zuschauerquoten seit Langem bescherte.